Wolf-Dieter Narr

Wolf-Dieter Narr

Gesammelte Schriften

Treffende Zitate. Eine Auswahl zu Wolf-Dieter Narrs 82. Geburstag

Zusammengestellt von Meinhard Creydt

Wer sich für grundlegende Gesellschaftskritik interessiert, konnte sich in den letzten Jahrzehnten über prägnante Analysen und Interventionen von Wolf-Dieter Narr freuen. Dem Aufruf zur Sammlung der treffendsten Narr-Zitate folgend sind viele Vorschläge eingetroffen. Einige werden im Folgenden anlässlich des 82. Geburtstags von Wolf-Dieter Narr (13. März 2019) präsentiert.

(Zu den Quellenangaben: Bei Zeitschriften bezieht sich die Zahl des Heftes (H.) auf die Folge der Ausgaben in einem Jahrgang, die Nummer (Nr.) auf die Zählung aller erschienenen Ausgaben.

ABSTRAKTIONEN

„Die Voraussetzung aller (Selbst-)Verantwortung, das Wissen um die Zusammenhänge und die allemal synergetischen Folgen ist gerade in den Wissenschaften selbstbezüglich nicht gegeben. Darum geht es im übrigen auch in der Betrachtung der Objekte verloren. Zusammenschau (syneidesis, conscientia, nicht zufällig dem deutschen Ge-wissen- Zusammenwissen verwandt) ist nicht vorgesehen, von bestenfalls reduktionistischen und einseitigen Synthesen zu schweigen. ... Abstrahere heißt indes: absehen von, verzichten, berauben. Darum käme es darauf an, die Stufenleiter der notwendigen Abstraktionen dauernd hinauf- und hinunterzuklettern, um die Aussparungen, die Verluste, die Ungenauigkeiten in den Genauigkeiten zu bedenken. Genau dieses Kletterhandwerk ist aber verpönt.“ (Narr, Wolf-Dieter 1994: Aspekte struktureller Verantwortungslosigkeit aus sozialwissenschaftlicher Sicht. In: Hans-Jürgen Fischbeck, Regine Kollek (Hg.): Fortschritt wohin? Münster)

ANALYSEMÜDE WEIL PESSIMISMUSMÜDE

„‚Pessimismusmüde’, wie Ulrich Beck … erfreulich-erschreckend schlicht bekennt (‚Ganz einfach: ich bin pessimismusmüde’, s. Beck 1993, 33), auf der Suche, der ‚negativistischen Sozialkritik’ der ‚alten’ Frankfurter Schule zu entrinnen (vgl. Honneth 1994, 81), sind die sozialphilosophisch-sozialwissenschaftlichen Kämpfen analysemüde geworden.“ (Narr, Wolf-Dieter 1994: Wie viel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theorie vertragen? In: Das Argument, Nr. 206)

ANGST UND ERKENNTNIS

„Welche Ängste in einem weiteren Verstande sind es wohl, die Sozialwissenschaftler und SozialwissenschaftlerInnen … dazu verführen, sich der Notwendigkeit ihres Fachs zu entschlagen, sprich: sich von den … Bleischweren der gesellschaftlichen ‚Dinge an sich’ zu entlasten (die eben alles andere als ‚an und für sich’ sind und deshalb gesellschaftlich wie individuell nicht ‚reflexiv’ zu Gebote stehen)?
Ist es die Angst vor der gesellschaftlichen Distanz, zu der das ‚Leiden an der Gesellschaft’ unvermeidlich führt? Ist es die damit verschwisterte Angst, in eine gleichfalls unvermeidliche soziale ‚Randlage’ zu geraten …? Ist darum ‚Hofferei’ (Günther Anders kritisch an Ernst Blochs Adresse) angezeigt?“ (Narr, Wolf-Dieter 1994: Wie viel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theorie vertragen? In: Das Argument,Nr. 206)

BESCHEIDENHEIT, FALSCHE

„Luthers ... Einsicht, dass Menschen Gerechte und Sünder zumal seien und sich auf Erden allemal schuldig machten, muss Jahrhunderte nach dem reformatorischen Akt und in gründlich verändertem Kontext als eine Art irdische Rechtfertigungslehre fast beliebigen Tuns herhalten. Diese neue Rechtfertigungslehre sorgte im jüngsten Krieg dafür, dass politisch repräsentative Protestanten ihre kriegszustimmenden Hände im Wasser der Unschuld wuschen. Sie wiesen schlicht darauf hin, Menschen machten sich, um einen Nichtprotestanten zu zitieren, politisch praktisch unvermeidlich immer ‚schmutzige Hände’ (Sartre). ... Der pauschale Hinweis auf eine existentielle, letztlich theologisch begründete Befindlichkeit des Menschen versagt sich dem menschenrechtlich und politisch notwendigen, sich im offenen Prozess des Urteilens ausweisenden ‚Prinzip Verantwortung’. Die pauschale Entlastung von aller genauen Rechenschaftslegung, wie einer zu einer folgenreichen Entscheidung gelangt ist, öffnet alle Türen der Skrupellosigkeit. ... In diesem Sinne führt der anscheinhaft Menschen beschwerende Hinweis aufs dauernde Schuldigbleiben, was immer man tue, zur schier grenzenlosen Leichtigkeit jeder Entscheidung.” (Narr, Wolf-Dieter; Roth, Roland; Vack, Klaus: Wider kriegerische Menschenrechte – Eine pazifistisch-menschenrechtliche Streitschrift. Köln Dezember 1999).

BETROFFEN

„Nur wer ‚betroffen’ ist, darf reden. Und ‚betroffen’ ist nur, wer am Ort des jeweiligen Geschehens weilt, selbst Instandbesetzer, selbst Student oder Frau oder homosexuell oder Türke oder .... ist. Welch ein bürokratisch produzierter, wenn auch nicht mehr als solcher durchsichtiger Kult der Unmittelbarkeit, der auf der anderen Seite gleichfalls rechtfertigen lässt, dass nur die jeweiligen Professionen ‚zuständig’ sind: für Krieg, vielmehr Sicherheit und Gesundheit und Bildung und selbstverständlich Politik.“ (Narr, Wolf-Dieter 1984: Aktive Resignation – Zur Praxis der Menschenrechte. In: Vorgänge, Nr. 70. München)

ERFOLG

„Wenn wir unseren Erfolgsmaßstab von den Herrschenden übernehmen, dann sind wir nicht aus einem linken Grenzbezirk in die Gesellschaft ‚eingebrochen’, vielmehr sind wir ein gefährliches Stück weit in der bestehenden Gesellschaft aufgegangen. Wir hätten dann wie der alte Krösus ein Land ‚erobert’ und gar nicht bemerkt, dass es unser eigenes gewesen ist, das erobert wurde, das wir also verloren haben“ (Narr, Wolf-Dieter; Vack, Klaus 1980: Form und Inhalt der Politik. In: Links. Sozialistische Zeitung, Nr. 122. Offenbach)

FRAGE

„Wie viel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theorie vertragen?“ (Narr, Wolf-Dieter 1994: Wie viel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theorie vertragen? In: Das Argument, Nr. 206)

KOMPLEXITÄTSJARGON

Ein unspezifisches Hantieren mit dem Begriff ‚Komplexität’ steht im Kontext einer „existenzialistischen Pauschalisierung”, die sich mit dem „scheinbaren Evidenzcharakter des Phänomens” begründet. Luhmann wiederholt „in einer seltsamen Ekstase des Commonsense die Undurchschaubarkeit, die Kompliziertheit, die rollenspezifische Unterteiltheit dieser ach so modernen Verhältnisse, indem er sie gleichermaßen ‚erklärt’ (im Sinne von deklamiert, nicht von begründet) und in ihrer … Unentrinnbarkeit erweist. Die ohnmächtige Seele von Herrn X und Frau Y in diesem Zeitalter … ‚erlebt’ Luhmanns Erklärung erleichtert in ihrer Richtigkeit: hier wird demonstriert, warum gar nicht begriffen werden kann (und darf), was zu begreifen ohnehin so schwerfällt.” „Sozialwissenschaftlich gesehen wäre es freilich nicht die Aufgabe, die Funktion der Komplexität (und ihrer Reduktion) in a- gesellschaftlichen Kategorien generell zu behaupten, sondern einmal diese Komplexität zu beschreiben und in ihren Eigenarten darzustellen, zweitens diese Komplexität in ihrer spezifischen Entstehungsweise nachzuzeichnen und drittens die Funktionen dieser Komplexität hier und heute zu analysieren und ihren Selbstrechtfertigungscharakter zu entschleiern.” (Narr, Wolf-Dieter; Runze, Dieter H. 1974: Zur Kritik der politischen Soziologie. In: Franz Maciejweski (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt. M.)

MENSCHENRECHTE

Die Menschenrechte selbst sind nicht so unproblematisch, wie sie erscheinen. Sie „trugen und behielten das Geburtsmal ihres Entstehungsorts und ihrer Gebärzeit. Sie wurden konzipiert als Rechte des letztlich privaten Individuums/Mannes, besitzindividualistisch ausgerichtet (Macpherson). Sie beanspruchten Geltung als Abwehrrecht des sphärenhaft ausgegrenzten Individuums und seines (vorgesellschaftlichen) Naturrechts vor allem gegenüber den möglichen Eingriffen der als Staat einheitlich vorgestellten Sphäre politisch-öffentlichen Belange.“ „Infolge der individualistisch-asozialen Verkürzung der Menschenrechte kommen die politisch-sozialen Teilnahme- und Handlungsrechte allenfalls zweitrangig hinzu. Außerdem gerät nicht in den Blick, dass erst ein angemessener institutioneller Kontext, erst eine zureichende soziale Ökologie ermöglichen, dass sich humane Autonomie ausbildet und verwirklichen lässt. … Weil die Menschenrechte als Abwehrrechte vor allem gegenüber staatlich-öffentlichen Eingriffen schützen sollen, wird die gesellschaftliche Sphäre ‚als System (privater) Bedürfnisse’ (Hegel) menschenrechtlich ausgespart.“ „Weil das Individuum nur in Körper, Haus und Eigentum, nicht aber als soziales Wesen zur Kenntnis genommen wird, wurden Gefahren, die von seiner sozialen Situation drohten, menschenrechtlich nicht registrierbar. Stattdesssen hieß und heißt Eigentumsbildung die Devise; sie dominiert Politik und Ökonomie der Privatisierung; sie definiert die ‚Ökonomie der Demokratie’ (Downs), die im unpolitischen Privatmenschen ihren Wesenszug findet.“ (Narr, Wolf-Dieter 1984: Aktive Resignation – Zur Praxis der Menschenrechte. In: Vorgänge, Nr. 70. München)

Es „gilt menschenrechtlich fundierte Kritik immer Verletzungen, die direkt an einzelnen Personen festgemacht werden können. Deswegen kommen Institutionen nur insoweit in den Blick, wie ihnen verletzende Übergriffe nachgewiesen werden können. Die Institutionen selber, gesellschaftliche Verhältnisse, insgesamt bleiben draußen vor der Tür menschenrechtlich informierter Kritik.“ (Narr, Wolf-Dieter; Roth, Roland 1996: Wider die verhängnisvolle Bescheidenheit. Teil 2. In: Prokla, Nr. 103)

Gegenüber der bei der DKP und K-Gruppen notorischen Ausblendung der Menschenrechte „besteht heute allerdings fast die umgekehrte Gefahr. Menschenrechte und Demokratie werden geradezu als Sozialismus-Ersatz entdeckt. Die kapitalistische Weltökonomie wird mehr oder weniger knurrig als Prämisse hingenommen, die ‚realistisch’ nicht mehr in Frage gestellt werden könne.“ (Narr, Wolf-Dieter; Roth, Roland 1996: Wider die verhängnisvolle Bescheidenheit. Teil 2. In: Prokla, Nr. 103)

REFLEKTIERTHEIT

„Reflexionshaltige, an Reflexion appellierende Formulierungen treten haufenweise auf. Fast verheddert man sich darin oder spürt zuweilen die Gefahr, dass Reflexion zur Geste wird, zum Als-ob.“ (Narr, Wolf-Dieter 1991: Vom Liberalismus der Erschöpften. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2)

VERANTWORTUNGSSIMULATION

„Die Unverantwortlichkeit dieser ‚verantwortungsvollen Politiker’ besteht genau darin, dass sie so tun, als ob sie verantworten könnten; als ob sie ihre formell gegebenen Kompetenzen materiell einzulösen vermöchten. Die Als-Obs jagen sich geradezu. Als ob entschieden würde; als ob entsprechend rational die diversen Pros und Kontras abgewogen, als ob Alternativen überlegt, als ob Folgen über das Wahlkalkül hinaus bedacht würden; als ob Formen und Inhalte permanent in Beziehung gesetzt würden.” (Narr, Wolf-Dieter 1995: Politik ohne Eigenschaften. In: Blätter f. dt. u. int. Politik, H.4)

VERRECHTLICHUNG

Die Menge der Prozesse belegt „die Weite und Intensität des Regelungsgeflechts“, sorgt aber „in ihrer Punktualität gerade nicht dafür, dass politische Verantwortung abverlangt wird. Sie verdecken allenfalls speziell deren Abwesenheit. Vor allem aber: Die amorphe Fülle des zu Regelnden hat die Rechtsform ausgeleiert. Sie führt dazu, dass die Auslegungsräume in gesetzlicher Form zugenommen haben und sich bürokratisches Recht mit Richterrecht seltsam paart. Außerdem hindert das gesetzliche Dickicht schon als solches eine demokratische Kontrolle. Letztere wird gleichfalls professionalisiert und bestätigt so Max Webers Beobachtung, dass in bürokratischen Zusammenhängen die Kontrolle ihrerseits mimetisch sich verhalte, sprich bürokratisch werden müsse.“ (Narr, Wolf-Dieter 1991: Die (drohende) Ortlosigkeit von Menschenrechten und Demokratie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. H. 4)

VERSÖHNUNG, FALSCHE

Habermas vermag „alle Spannungen der ‚Sachen’, die ‚sich hart im Raume stoßen’, mit dem Diskurspril zu lösen. ... Macht und Recht, Eigeninteresse und Moral, ‚kommunikativ erzeugte’ und ‚administrativ verwendete Macht’, demokratische Öffentlichkeit und Administration’ – eine Art Habermas’ sche Dauerweihnachten findet statt. Ruppige Opposita liegen verträglich, vertraulich nebeneinander.“ (Narr, Wolf-Dieter 1994: Recht – Demokratie – Weltgesellschaft. Überlegungen anlässlich der rechtstheoretischen Werke von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann. Teil1. In: Prokla, Nr. 94, 24. Jg., H. 1)

WAHLEN

„An der politischen (= staatlichen) Willensbildung nehmen BürgerInnen durchschnittlich in seltener Nebenbeschäftigung vereinzelt in der Wahlkabine teil. Ihr erfüllender Hauptberuf gilt den privaten Interessen. Politik ist institutionalisierte und repräsentativ kontrollierte Stellvertreterpolitik.“ (Narr, Wolf-Dieter; Roth, Roland 1996: Wider die verhängnisvolle Bescheidenheit. Teil 2. In: Prokla, Nr. 103)

Es werden die „Muskeln politischer Beteiligung schon innerhalb des offiziellen politischen Korridors so unzureichend trainiert, dass ihre Unterentwicklung nicht verwundert.“ (Narr, Wolf-Dieter 1991: Die (drohende) Ortlosigkeit von Menschenrechten und Demokratie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. H. 4)

ZIVIILGESELLSCHAFT

„Wie immer sich die diversen zivilgesellschaftlichen Varianten normativ zur kapitalistischen Vergesellschaftung verhalten mögen, ihre analytische Abstinenz in Sachen Ökonomie garantiert ihr konzeptionelle Luftigkeit.“ (Narr, Wolf-Dieter 1994: Wie viel Entwirklichung kann sozialwissenschaftliche Theorie vertragen? In: Das Argument, Nr. 206)